Leseprobe „ Die Insel hinter den Wellen“ 

 

Etwa zur gleichen Zeit stand Patrick am Rande der Klippe, den Blick ins Landesinnere gerichtet und überlegte fieberhaft, wie er zu etwas Essbaren kommen könnte. Trotz aller Euphorie über seine geglückte Landung spürte er schmerzhaft den Hunger als profanes menschliches Bedürfnis. Er machte sich keine großen Illusionen, ihn kurzfristig stillen zu können, aber er musste irgendetwas unternehmen, damit er endlich etwas zwischen die Zähne bekam.

Vor ihm lag die riesige Wiese und dahinter, in einigen hundert Metern Entfernung, begann ein dichtes Waldgebiet, das sich über die ganze Senke erstreckte und sich zum Teil auch den Hügel hochzog. Dort im Wald gab es bestimmt Beeren, andere Früchte oder Pilze. Dann konnte man weitersehen. Aber wo war Grainne? Im Stillen hatte er gehofft, ihr jetzt endlich gegenübertreten zu können. Sie musste sich in unmittelbarer Nähe aufhalten. Vielleicht beobachtete sie ihn sogar. Er glaubte, ihre Nähe fast körperlich zu spüren. Wo sie jetzt aber war und sich verborgen hielt, hatte sie sich perfekt getarnt. Er hielt seine flache Hand über die Stirn, um seine Augen vor der tief stehenden Sonne zu schützen und hielt angestrengt Ausschau nach ihr. Der Wind strich über die fast meterhohen Gräser und verwandelte sie in ein buntes Wellenmeer. Aber trotz aller Anstrengung konnte er nichts Auffälliges entdecken. Und  dann, nicht allzu weit von seinem Standort entfernt, nahm er einen Schatten war. War es vielleicht eine menschliche Gestalt? War es vielleicht sogar Grainne? Er hastete aufgeregt zu der Stelle hin, stellte jedoch enttäuscht fest, dass sich nur Zweige eines wilden Busches im Wind bewegt hatten.

Eigentlich hatte er sich das alles ganz anders vorgestellt und gehofft, sie würde ihn am Strand mit ausgebreiteten Armen empfangen. Nun war er schon seit Stunden auf der Insel und hatte von ihr noch keine einzige Spur gefunden. Gut, er sah ein, dass er ihr ein wenig Zeit lassen musste. Er war der erste Mensch, den sie nach Jahrhunderten der Isolation gesehen hatte. Er konnte einerseits verstehen, dass sie das alles erst einmal verarbeiten musste, aber andererseits hatte er doch für sie sein Leben riskiert, da konnte sie schon ein wenig Dankbarkeit zeigen. Bei seinen Überlegungen vergaß er natürlich zu berücksichtigen, dass es nicht ihr Wunsch, sondern seiner gewesen war, das große Wagnis einzugehen, um sie aus ihrer Einsamkeit zu befreien.

Bevor er den Waldesrand erreichte verhielt er zunächst und durchsuchte seine Bekleidung. Der Rest des zerrissenen Hemdes schlotterte am Körper herum und auch die Hose hatte einige Risse abbekommen. Seine festen Schnürschuhe waren allerdings noch in Ordnung. Zu seiner großen Freude stellte er fest, dass sich sein  Taschenmesser noch unversehrt in seiner Gesäßtasche befand. Erstaunlicherweise war es ihm bei seinem Höllenritt auf der Riesenwelle nicht verloren gegangen. Das Messer bestand aus einer Kombination aus Messer, Schere, Korkenzieher und kleiner Zange. Dies würde er künftig gut gebrauchen können und stellte seinen größten Schatz dar. Er fühlte sich sofort sicherer, denn er wusste nicht, welche Gefahren er im Wald oder auf der Insel künftig noch gegenüberstehen würde. So war er jedenfalls gegen den überraschenden Angriff eines wilden Tieres gewappnet. Mit weit ausholenden Schritten ging er auf den Wald zu. Der wirkte, je näher er kam, dunkel und irgendwie bedrohlich. Laub -und Nadelbäume standen eng beieinander und dazwischen befand sich dichtes, wild wucherndes Unterholz. Ein bisschen unwohl war ihm schon, obwohl er nun wirklich kein Feigling war. Er nahm deshalb vorsorglich das Messer in die eine Hand und hielt es griffbereit, um vor Überraschungen, gleich welcher Art, sicher zu sein und mit der anderen schob er die Äste und das Buschwerk vor seinem Gesicht auseinander. So drang er in den Wald hinein, jeden Augenblick mit einem Angriff rechnend.

Das Dickicht bestand nicht nur aus Bäumen und Büschen, sondern zu seinem Erstaunen auch aus Lianen und Schlingpflanzen. Darunter waren  auch   solche   mit  riesengroßen  Blättern  und  wunderschönen bunten Blüten, die vom Boden aus empor wucherten. Derartige Pflanzen hatte er niemals zuvor gesehen. Als er sich Schritt für Schritt langsam vorantastete, legten sie sich wie kleine Schlangen um seine Füße. Durch die dichten Wipfel der Bäume drangen nur wenige Sonnenstrahlen nach unten. Es herrschte ein geheimnisvolles, unwirkliches Dämmerlicht. Hier war es auch erheblich kühler als zuvor auf der Wiese und deshalb fröstelte ihm auch ein wenig. Überall knackte es, vor ihm, hinter ihm und neben ihm. Es schien ihm,  als wenn ihn tausend unsichtbare Augen verfolgen würden. Er fühlte sich auf merkwürdige beobachtet. War Grainne bereits schon in unmittelbarer Nähe?

Auf dem Boden lagen überall große, fast runde Steine, die mit Moos bewachsen waren. Auf den ersten Blick lagen sie scheinbar wahllos herum, als er aber genauer hinsah, stellte er fest, dass sie wie eine Begrenzung aussahen und einen Weg markierten. Zwischen den vielen Pflanzen und Stauden entdeckte er endlich auf dem Boden Walderdbeeren und Büsche mit Heidelbeeren. Er ließ sich auf die Knie nieder, vergaß alle Vorsicht und pflückte mit beiden Händen die Früchte und stopfte sie sich gierig in den Mund. Sie schmeckten köstlich, waren weich und saftig und zergingen auf der Zunge. Er aß, so viele Beeren er finden konnte und spürte, wie sich sein Magen langsam füllte. Die Heidelbeerbüsche nahmen kein Ende und zierten buchstäblich den moosgrün begrenzten Weg in das Innere des Waldes. Langsam wurde er neugierig, wohin ihn die Steine auf dem Weg führen würden. Das Sonnenlicht brach mal mehr, mal weniger durch die Baumkronen und das Grün der Bäume und der Pflanzen leuchteten in vielen verschiedenen Farbtönen. Der Waldboden war weich und federte bei jedem Schritt und überall lagen Blüten und bunte Blätter mit den verschiedensten Mustern herum. Seine Spannung und seine leise Furcht  wichen einer ungeheuren frohen und beschwingten Stimmung. Was sollte ihm in diesem wundervollen Wald schon passieren?

Bisher hatte er noch kein einziges Tier gesehen. Es war völlig still, nur der Wind rauschte leise in den Baumwipfeln und schien mit ihnen ein geheimnisvolles Spiel zu spielen. Das Dickicht wurde immer undurchdringlicher. Die Pflanzen schienen sich zu einer Wand zu vereinigen, alle nur mit dem einen Ziel, ihm den Zutritt zu dem Zauberwald zu verwehren. Aber er ließ sich nicht von seinem Wege abbringen. Unverdrossen zwang er sich durch das Grün und setzte auch gelegentlich das Messer ein und schnitt sich schließlich so einen Weg hindurch. Farne von der Größe eines ausgewachsenen Mannes wucherten neben ihm. Irland hatte nicht viele dichte Wälder aufzuweisen und er kannte einige Waldgebiete um Killarny. Aber keines wies eine derart urwaldähnliche Struktur auf. Er wusste zwar, dass durch den Golfstrom und dem dadurch bedingten milden Klima Bambus und Palmen auf irischem Boden wuchsen, aber diese ungewöhnlichen Pflanzen und Sträucher hatte er zuvor noch nie gesehen.

 Er war auf eigenartige Weise beschwingt, aber auch gleichzeitig etwas verwirrt wegen der Vielfältigkeit der ihn umgebenden Natur. Neben ihm, vor ihm, überall sah er wunderbare Orchideen in zauberhaften Farben und rote und gelbe Hibiskusblüten. Es war einfach überwältigend und von unglaublicher Schönheit. So lief er wie betäubt durch den Wald auf dem geheimnisvoll markierten Weg ins Unbekannte.

Er musste bestimmt zwei Stunden gelaufen sein, als er das Ende der Senke erreichte. Von nun an ging es erst sanft und dann steiler den Hang hinauf. Der Wald wurde immer lichter und die Sonne drang endlich wieder durch die Wipfel. Er spürte eine langsam aufkommende Erschöpfung und sehnte sich nach einem weichen Bett. Die Sonne stand bereits kurz über den Baumkronen und würde in spätestens einer Stunde untergehen. Er hatte Grainne noch immer nicht gefunden und auch kein Zeichen ihrer Nähe entdeckt. Er verstand nicht, warum sie sich ihm nicht endlich zeigte, anstatt in der Nähe neben ihm womöglich einher zu schleichen. Hatte er etwas falsch gemacht und sie  verärgert oder gab es sie überhaupt nicht? Da waren sie wieder, die Zweifel und  dunklen  Gedanken,  die  ihn  noch  immer nicht verlassen hatten. Er stampfte wütend mit den Füßen auf  den  Boden und ärgerte sich über seine Wankelmütigkeit und das fehlende Vertrauen, dass immer noch von ihm Besitz ergriffen hatte.

Das war vielleicht eine verrückte Geschichte. Er, der kleine und unbedeutende Fischer, Patrick 0`Sullivan, aus Castlegregory, auf der Suche nach einer verstoßenen Königin. Das glaubte ihm sowieso kein Mensch. Er schüttelte unwillig den Kopf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. War es das alles überhaupt wert? Er hatte so vieles aufgegeben: seine Heimat, seine Familie, seine Existenz und seine Freunde und das alles nur, um seinen Schwur aus der Kindheit und die Bitte eines alten Mannes in die Tat umzusetzen.

Er stand allein auf einer Anhöhe einer menschenleeren Insel, nichts zu essen oder zu trinken und kein Lager für die Nacht. Er biss sich auf die Lippen, weil ihn schon wieder diese negativen, destruktiven Gedanken zu überfluten schienen. Diese verdammten Zweifel ließen sich nicht verdrängen. Immer wieder stellten sie alles in Frage und lähmten seine Entschlusskraft. Er musste stark sein und sich, und vor allem Grainne, endlich vorbehaltlos vertrauen. Und ihm dämmerte, dass er  sie wahrscheinlich so lange nicht zu Gesicht bekommen würde, bis seine Zweifel an der Richtigkeit der angetretenen Reise endlich verschwunden waren.

Langsam kam der Gipfel des vor ihm liegenden Hügels immer näher. Er lief und lief und wusste doch nicht wohin. Schließlich blieb er stehen und schaute zurück. Hinter sich und unter ihm war der schwarze, geheimnisvolle Wald zurückgeblieben, der wie ein Schutzwall um den Hügel herum lag und der von ihm durchbrochen worden war. In der Ferne sah er die Ebene, die er durchquert hatte. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter dem Hügel versteckt und die aufziehende Abendröte kündigte die herannahende Nacht an. Erschöpft ließ er sich zwischen mehreren Felsbrocken nieder. Er musste sich ausruhen und seine Lage neu überdenken.   

Als er erwachte und die Augen wieder aufschlug war es Nacht und er blickte in den mit Sternen übersäten Himmel. Sie waren viel größer, heller und funkelten wie Diamanten und standen dichter neben einander, als er es jemals zuvor empfunden hatte. Er schaute angestrengt in das unendliche, über sich gespannte, schwarze Firmament, aber den „Großen Wagen“ konnte er nicht entdecken. Das Sternbild war nicht da, obwohl es in dieser Jahreszeit mit der Deichsel in Richtung Nordwesten zeigen musste. Was war nur geschehen und wo war es geblieben? Beunruhigt suchte er die anderen, ihm bekannten Sterne an den Positionen, die er als erfahrener Seemann bei seinen nächtlichen Ausfahrten unzählige Male hatte leuchten sehen. Auch sie waren nicht da. Der ganze Himmel war ihm völlig fremd und mit einem Mal kam er sich grenzenlos einsam vor. Es war ein gänzlich anderer Himmel als der, den er aus seinem bisherigen Leben kannte. Das war hier jedenfalls nicht seine Welt, in die er hineingeboren war. Aber wenn es so war, wo war er dann? Er brach ab und wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, denn er hatte plötzlich Angst vor dem Ergebnis, dessen Konsequenz seine Auffassungsgabe sprengen würde.

Wie im Trance stand er auf, lief einige Schritte, setzte sich wieder auf einen Felsen, schlug beide Hände vor‚ s Gesicht und verharrte in dieser Stellung. Die zwiespältigsten Gefühle überwältigten ihn und er konnte nicht verhindern, dass sich seine Augen mit Tränen füllten, die ihm langsam die Wangen herunter liefen.